Ein Engel zur Weihnachtszeit
Elli sitzt am Küchentisch und eine Träne kullert ihr über die Wange. Tag für Tag das Gleiche. Aufstehen, Frühstück machen, auf den Anruf ihrer Tochter warten, sagen, dass es ihr gut geht. Etwas zu Mittag essen, mit dem Blindenstock einmal die Straße rauf und runter, nur bis zur Ampel und wieder zurück. Dann den Fernseher einschalten und nach den Nachrichten ins Bett. Im Sommer hat sie noch manchmal ihre Freundin Berta abgeholt und sie sind zusammen in ein Kaffeehaus gegangen und einmal sogar zum Italiener. Das ging ziemlich daneben, weil Elli sich so ungeschickt angestellt hat und die Hälfte der Pizza auf ihrem Kleid gelandet ist. Seitdem ist Funkstille. Die Kinder haben wenig Zeit, Bekannte von früher melden sich nicht mehr. Mittlerweile ist der Sommer längst vorbei und Weihnachten rückt mit großen Schritten näher. Wie gerne würde sie wieder einmal auf den Christkindlmarkt gehen und für die Enkelkinder etwas kaufen.
Elli wischt sich die Tränen aus dem Gesicht, zieht ihren Mantel an und ruft ein Taxi. Wenige Minuten später steht sie mitten im Trubel des Christkindlmarktes. Unendlich viele Stimmen und Gerüche prasseln auf sie ein: Links von ihr riecht es nach Maroni, hinter ihrem Rücken singt ein Kinderchor und die Menschen rundum lachen und prosten sich mit Glühwein zu. Elli versucht sich zu orientieren und sich mit ihrem Stock einen Weg zu bahnen, dorthin, wo es früher einmal Holzspielzeug gab. Doch nach wenigen Metern im Gedränge schlägt ihr das Herz bis zum Hals. Alles, was sie noch erkennen kann, sind vage Schatten und sie hat keinen blassen Schimmer, wo sie sich befindet. Ihr Stock findet keinen Halt mehr, niemand scheint sie zu bemerken. „He Sie, passen Sie doch auf!“ Eine zornige Stimme schlägt ihr entgegen. Elli strauchelt und hört nur noch, wie Glas zerbricht.
Irgendwie schafft sie es aus dem Trubel an einen etwas ruhigeren Ort. Sie fischt ihr Handy aus der Tasche und drückt auf die erstbeste Taste. Als ihre Freundin Berta abhebt, fällt ihr ein Stein vom Herzen. „Berta, bitte hilf mir, ich bin am Christkindlmarkt!“ Endlich nähert sich die vertraute Stimme und als Berta sie in den Arm nimmt, zittern Elli die Knie. „Gott sei Dank bist du jetzt da!“ Kurz darauf sitzen die beiden im wohlig warmen Kaffeehaus, jeder eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen vor sich. „Was hast du dir bloß dabei gedacht?“ Elli schluchzt: „Ich war so einsam und wollte für die Kinder etwas besorgen. Ich habe geglaubt, dass ich das irgendwie schaffe, aber für mich ist jetzt wohl alles vorbei.“ Berta legt den Arm um ihre Schulter: „Dein Leben ist noch lange nicht vorbei, es gibt viel andere, denen es genauso geht. Du musst nur lernen, mit der neuen Situation umzugehen. Weißt du was, wir rufen gleich morgen beim Blinden- und Sehbehindertenverband an, die helfen dir bestimmt weiter. Und jetzt gehen wir gemeinsam zum Stand mit dem Holzspielzeug und du suchst etwas Schönes für die Kleinen aus.“
Elli steckt das kleine Päckchen in die Handtasche. Heute trifft sie sich mit Berta, wieder beim Italiener. Elli kennt mittlerweile den kurzen Fußweg, hat ihn mehrmals geübt, hört auf das Ticken der Ampel. Zwischen den beiden Blumentrögen geht es drei Stufen hinab zur Eingangstür und da nimmt sie auch schon der freundliche Kellner in Empfang. Das Besteck liegt neben dem Teller, das Weinglas steht auf 2 Uhr, das Wasserglas direkt dahinter.
„Ich bin dir so dankbar, Berta! Ich hätte niemals zu träumen gewagt, dass sich mein Leben noch einmal so gut anfühlt. Komm doch mit zur Weihnachtsfeier in den BSVS, dann lernst du meine neuen Bekannten kennen!“ Als Berta sich bei Elli für das hübsche Geschenk bedanken möchte, stößt sie gegen das Tischbein und ihr Glas mit Rotwein kippt um. Elli schmunzelt leise, als Berta hastig Salz auf den großen Fleck auf dem Tischtuch streut.